"Das Parlament"
Nr. 14-15 / 30.03.2015


 Volodymyr Groysman

»Der Weg wird steinig«
 
 

Der ukrainische Parlamentsprasident hofft, dass sein Land bis 2020 die EU-Beitrittskriterien erfallt

Herr Groysman, der Bundestag hat f?r das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, Georgien und Moldau gestimmt. Was bedeutet das f?r ihr Land?

Zun?chst m?chte mich herzlich bei Bundestagspr?sident Norbert Lammert f?r die Einladung an diesem besonderen Tag danken. Die Beschlussfassung zum Assoziierungsabkommen mit der Europ?ischen Union ist ein historisches Datum. Es ist au?erordentlich wichtig f?r die europ?ische Integration der Ukraine und die Zustimmung des Bundestags ist ein weiterer Erfolg auf dem Weg, f?r den die Menschen w?hrend unserer ?Revolution der W?rde? gek?mpft haben. Ich konnte die Debatte im Plenum verfolgen. Beeindruckt hat mich die breite Unterst?tzung f?r die europ?ische Perspektive der Ukraine. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit ihrer Anwesenheit w?hrend dieser Debatte unterstrichen, wie wichtig dies f?r die Europ?ische Union ist. Das ist in meinen Augen auch f?r anderen Staaten ein positives Signal, denen dieser Ratifizierungsprozess noch bevorsteht.

Eine br?chige Waffenruhe im Osten des Landes, ein Einbruch beim Wirtschaftswachstum von minus 7,5 Prozent im vergangenen Jahr: Welcher Gestaltungsspielraum bleibt der ukrainischen Politik?

Es gibt eine Aggression Russlands gegen unser Land, das ist ganz offensichtlich. Es ist der Versuch, die Ukraine zu destabilisieren und sie von ihrem Weg der europ?ischen Integration abzubringen. Wir stehen vor gro?en Herausforderungen. In den
24 Jahren seit der Unabh?ngigkeit ist es uns leider nicht gelungen, wirksame Reformen in Angriff zu nehmen, unser Land erfolgreich zu modernisieren. Wir sind entschlossen, diese Reformen jetzt anzugehen. Das neue demokratisch gew?hlte Parlament in Kiew hat diese Entschlossenheit schon unter Beweis gestellt.

Mit welchen konkreten Schritten?

Die Rada hat in den wenigen Monaten seit der Wahl im vergangenen Herbst Gesetze im Kampf gegen die Korruption angenommen und Beschl?sse zur Dezentralisierung und zu Fragen des Gerichtswesens und der nationalen Sicherheit gefasst. Wir sind uns bewusst, dass wir erst am Anfang stehen und dass es ein sehr steiniger Weg sein wird. Deshalb braucht die Ukraine Unterst?tzung von all ihren Partnern in der Welt. Ich bin mir sicher, dass unser Land aus dieser Krise gest?rkt hervorgehen wird.

Das Assoziierungsabkommen verlangt den Ukrainern gro?e Reformbereitschaft ab. Im Zusammenhang mit einem IWF-Kredit d?rften zum Beispiel bald die Energiepreise f?r Privathaushalte drastisch steigen. ?berfordert der Modernisierungsdruck wom?glich die ukrainische Gesellschaft?

Ich glaube, dass die Ukrainer und Ukrainerinnen Verst?ndnis f?r die Notwendigkeit dieser Reformen aufbringen. Der Modernisierungsstau ist das Ergebnis der Vers?umnisse der vergangenen Jahre. Einige Reformen werden sehr schmerzlich sein. Wir stehen zum Beispiel vor der Aufgabe, den Energiesektor zu modernisieren. Die Ukraine ist bei den Gaslieferungen abh?ngig von Russland. Es geht hier also nicht nur einfach um die Frage der Energieversorgung, sondern ? mit Blick auf die Aggression Russlands ? um elementare Fragen unserer nationalen Sicherheit.

Eines der wichtigen Ziele der Maidan-Revolution war der Kampf gegen die Korruption und die Entmachtung der Oligarchen. Wie weit ist Ihr Land auf diesem Weg gekommen?

Gerade in den vergangenen Tagen ist auf diesem Feld viel geschehen. Pr?sident Petro Poroschenko hat sich f?r die Abberufung des umstrittenen Gouverneurs des Gebiets Dnjepropetrowsk entschieden. Das Parlament hat der Einrichtung eines Antikorruptionsb?ros zugestimmt und au?erdem Regelungen auf den Weg gebracht, die die Transparenz bei staatlichen Unternehmen garantieren sollen. Der Einfluss des Gro?kapitals auf die Wirtschaft und auf politische Entscheidungen muss begrenzt werden.

Wichtige Industrieregionen der Ukraine ? Dnjepropetrowsk, Saparoschja und Charkiw ? sind wirtschaftlich eng mit Russland verflochten. Wie hoch sch?tzen Sie die Gefahr ein, dass die Industrieproduktion mit der ?ffnung zur EU Schaden nimmt?

Die Industrie in der Ukraine muss dringend modernisiert werden. Das h?tte eigentlich schon vor zehn Jahren stattfinden m?ssen, heute ist diese Aufgabe erst recht unausweichlich. Ebenso dringlich ist es, dass sich unsere Unternehmen neue Abnehmer erschlie?en. Die traditionellen M?rkte noch aus Zeiten der Sowjetunion, insbesondere der russische Markt, werden zuk?nftig nicht mehr tragen. Man darf nicht vergessen, dass wir es neben einer milit?rischen Aggression durch Russland ja auch mit einer wirtschaftlichen Aggression gegen unser Land zu tun haben.

Soll die Ukraine Mitglied der EU werden und wom?glich auch der Nato?

Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, alles daf?r zu tun, damit wir bis zum Jahr 2020 die Beitrittskriterien erf?llen und dann einen Antrag auf Beitritt zur Europ?ischen Union stellen k?nnen.

Welche Vorschl?ge gibt es f?r die neue Verfassung der Ukraine, welchen Status sollen die ?Volksrepubliken? Donezk und Luhansk erhalten?

Wir sind mitten im Prozess einer verfassungsgebenden Versammlung, sie wurde von Pr?sident Poroschenko einberufen. Man hat mich als Vorsitzenden vorgeschlagen. Der Pr?sident wird gemeinsam mit dem Parlament an den Reformen arbeiten. Vorrangige Aufgaben sind die Dezentralisierung und die Schaffung eines Systems einer tats?chlichen ?rtlichen Selbstverwaltung.

Welche Optionen bleiben, wenn der Konflikt in der Ostukraine erneut eskaliert?

Das Minsker Abkommen vom Februar dieses Jahres muss eingehalten werden. Man muss hinzuf?gen, dass es sich hierbei nicht um einen regional begrenzten Konflikt handelt, der nur zwei Regionen im Osten der Ukraine betrifft. Dem ist nicht so. Es ist ein globaler Konflikt, der ganz Europa angeht. Eine Eskalation, eine Versch?rfung der
Aggression gegen die Ukraine, w?rde fr?her oder sp?ter jedes europ?ische Land betreffen. Ich kann verstehen, dass es sehr schwer vorstellbar ist, dass diese Gefahr tats?chlich existiert, insbesondere in L?ndern, die ein sehr hohes Lebensniveau erreicht haben. Aber diese Gefahr betrifft uns gemeinsam und sie ist real.

Sprechen die EU-Mitglieder aus Ihrer Sicht mit einer Sprache?

Man muss sich vor Augen f?hren, dass es in diesem Konflikt um Werte geht, die alle europ?ischen L?nder einen, auch wenn sie verschiedenen Sprachen sprechen. Es sind die Werte der Freiheit, der Menschenrechte, der Demokratie und der territorialen Integrit?t jedes Landes. Es ist ein Fehler, anzunehmen, dass dieser Konflikt nicht die gesamte Europ?ische Union betr?fe. Der deutsche Theologe Martin Niem?ller hat gesagt: ?Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.? Mir scheint, dass dieses Zitat die heutige Situation beschreibt.

Das Gespr?ch f?hrten J?rg Biallas und Alexander Heinrich.

Volodymyr Groysman ist seit November 2014 Pr?sident der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, in das er ?ber die Liste des ?Blocks Petro Poroschenko? gew?hlt wurde. Zuvor war er Minister f?r Regionalentwicklung in der ?bergangsregierung von Premier Arsenij Jazenjuk.